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Erstmal vorweg: Dieser Artikel ist ein wenig anders als die anderen. Bei dem nachfolgenden Text handelt es sich nicht um einen gewöhnlichen Blogartikel, sondern um einen philosophische Essay zum Thema „Wissen“, der von mir (Philipp Doblhoff) kürzlich in einem anderen Zusammenhang verfasst wurde. Da man sich aber beim Erlernen einer Sprache ebenfalls Wissen aneignen muss beziehungsweise mit diesem Richtig umgehen, ist dieser Essay nun hier im Blog zu finden. Ich würde mich natürlich sehr über eure Meinungen zu diesem Thema freuen!

Der Essay trägt den Titel „Wissen ist ein Wagnis“ und behandelt folgendes Zitat:

„Dem zum Wissen Gekommenen wird rückwirkend klar, was er am Nichtwissen hatte.“
(Sloterdijk, Peter: Sphären. Band 3 – Schäume, Frankfurt am Main 2004, S. 200)

Wissen ist ein Wagnis

Der Astrophysiker Stephen Hawking warf bereits 1979 einen Blick in die Zukunft und verkündete, dass es nur noch knapp 20 Jahre dauern werde, bis die letzten Fragen der Physik endgültig geklärt seien und wir – das heißt die Elite der Physiker – die Welt in ihrer Gesamtheit verstehen würden. Einstein formulierte 1905 in seiner Relativitätstheorie, dass nichts schneller als das Licht sei und auch nie sein werde.
Läge Hawking mit seiner damaligen Prognose richtig, wäre die Frage nach der Existenzberechtigung von CERN im Jahre 2012 durchaus legitim. Ob sich Einsteins These hingegen auch in Zukunft gegen unser aktuelles Wissen behaupten kann und nicht, wie Hawkings Prognose, revidiert werden muss, ist angesichts kürzlich durchgeführter Experimente keinesfalls sicher. Mit einem Blick in die Vergangenheit ließen sich noch unzählige solcher Beispiele nennen. Fakt ist, dass beide Aussagen nur auf Basis des damals als gültig klassifizierten Wissens getätigt werden konnten. Ich möchte damit aufzeigen, dass Wissen lediglich in einem temporären Kontext Gültigkeit besitzt und diesen Essay mit dem Versuch einer Definition dieses zentralen Begriffs einleiten.

Für mich ist Wissen die gerechtfertigte, unter Berücksichtigung aller Aspekte konsistente, strukturierte Erkenntnis von Zusammenhängen.

Doch ist eine solch zentrale Determinierung dieses Begriffs – unabhängig von ihrer Konstruktion – überhaupt relevant beziehungsweise möglich? Ebenso wie Wittgenstein beantworte ich diese Frage mit nein und schließe daher die Existenz einer allgemein gültigen Bestimmung dieser Begrifflichkeit aus. Grund dafür ist, dass jede noch so raffinierte Definition durch ein entsprechend konstruiertes Gedankenexperiment widerlegt werden kann. Wie Edmund Gettier bereits durch eine Reihe derartiger Gedankenbeispiele aufzeigte, muss „auch eine wahre, gerechtfertigte Meinung nicht immer Wissen darstellen.“ Demnach können wir nie etwas wirklich wissen. Daher muss die Vorstellung, „Wissen“ exakt definieren zu können, aufgegeben werden.

Angesichts des enorm breiten Spektrums an Gesichtspunkten, die bei Sloterdijks Zitat thematisiert werden können, habe ich beschlossen, die meiner Meinung nach relevantesten aufzugreifen und jeweils durch kurze Impulsfragen einzuleiten.

Ist Wissen objektiv?

In unserem Sprachgebrauch wird – im Gegensatz zu „Meinung“ oder „Glaube“ – dem Nomen „Wissen“ das Attribut „objektiv“ beigemessen. Im alltäglichen Kontext mag diese Deklarierung durchaus einen gewissen Wahrheitsgehalt aufweisen. Ich vertrete aber die Meinung, dass im tieferen Sinne zwei Ausprägungsformen des Wissens existieren, wobei keine der beiden richtiger ist als die andere.
Die eine manifestiert sich durch die Summe unserer Sinneswahrnehmungen. Diese ist für uns zwar unmittelbar greifbar, jedoch gefärbt und dementsprechend subjektiv.
Die andere spiegelt die ungetrübte Realität wider, zu welcher wir jedoch keinen direkten Zugang haben, da wir nur die – durch unsere Subjektivität getrübte – Summe der Sinnesempfindungen wahrnehmen und analysieren können. Unter Zuhilfenahme moderner naturwissenschaftlicher Methoden lässt sich die Grenzfläche zwischen diesen beiden Ausprägungsformen zwar auf ein Minimum reduzieren, da aber die erforderliche Distanz zu dem beobachteten Medium nie sicher erreicht wird, kann diese Grenze zwischen Wissen und Realität niemals komplett aufgehoben, sondern lediglich verschoben werden. Demnach ist selbst mutmaßlich objektives Faktenwissen nicht vollkommen objektiv. Der Wissensgehalt wird durch den Wissenden unweigerlich manipuliert. Ob dies bewusst oder unbewusst geschieht, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Fakt ist, dass es geschieht.
Diese Überlegung baut auf der Position des radikalen Konstruktivismus der Erkenntnistheorie auf, welche besagt, dass der Beobachter nicht als unabhängig von der Erkenntnis angesehen werden kann.
Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget differenzierte ebenfalls zwischen diesen beiden Ausprägungsformen des Wissens und erklärte, dass „die kognitiven Strukturen, die wir Wissen nennen, nicht als Kopie der Wirklichkeit verstanden werden dürfen.“

Nicht nur der Wissende wirkt unmittelbar auf den Realitätsbezug des Wissens ein. In dem von dem kanadischen Philosophen Marshall McLuhan in den 70er Jahren veröffentlichten Buch ‚The Medium is the Massage’ nimmt dieser auf die Frage nach dem Einfluss des zur Wissensvermittlung verwendeten Mediums Bezug. Ebenso wie der Faktor, wie man etwas sagt, spielt der Faktor, in welchem Medium man etwas sagt, eine entscheidende Rolle, was den Wissensgehalt der Nachricht betrifft.
Doch nicht nur der Wissende und das Medium beeinflussen den Wissensgehalt. Der Wissensgehalt beeinflusst sich auch selbst, da durch das Selektieren von Wissen indirekt Werte und Normen übergeben werden. Das Vorenthalten von Wissen verändert den Wert von mitgeteiltem Wissen.

Gibt es zu viel Wissen?

In dem heutigen globalen Dorf ertrinkt die moderne Wissensgesellschaft in Informationen, die sie fälschlicherweise als „Wissen“ tituliert. Fälschlicherweise, weil die im Folgenden beschriebene „Wissensflut“ keinerlei Parallelen mit meiner zu Beginn angeführten Definition von Wissen aufweist. In dieser Wissensflut zu schwimmen und nicht unterzugehen, gestaltet sich immer schwieriger, je leichter zugänglich die Quellen sind, die dieses vermeintliche Wissen bereitstellen. Wir werden – wohl gemerkt: werden – über immer mehr Schnittstellen mit immer leistungsfähigeren Rohren mit immer mehr Wissensquellen vernetzt. Dadurch lastet ein immer höherer Druck auf uns, dieses Wissen aufzunehmen und zu verarbeiten. Das permanente Überprüfen des persönlichen Facebook-Profils und das Weiterleiten der dort gefundenen Neuigkeiten an den eigenen Twitter-Account sind die Folgen. Dadurch steigt der Spiegel an „Scheinwissen“ wiederum an und es entsteht ein System, das sich langsam aber sicher selbst überfüllt. Brauchen wir den Großteil dieses „Wissens“ wirklich? Wären wir ohne diese Wissensflut nicht besser dran?

Wissen ist Macht.

Dieses Zitat von Francis Bacon legt bereits Ende des 16. Jahrhunderts sehr prägnant den Zusammenhang zwischen Wissen, Macht und der damit verbundenen Verantwortung dar. Wie die Vergangenheit bereits mehrmals auf höchst demonstrative Weise gezeigt hat, geht Wissen stets mit der Verantwortung einher, mit diesem Wissen richtig umzugehen. Für ein anschauliches Beispiel möchte ich hier erneut auf Einsteins Relativitätstheorie Bezug nehmen. Neben der Voraussetzung für die globale Positionsbestimmung via GPS und der Erzeugung von Atomenergie, trugen dessen Erkenntnisse auch maßgeblich zur Entwicklung der Atombombe bei. War die Erkenntnis dieses Wissens nun gut oder schlecht? Hätten die unzähligen Opfer atomarer Unfälle und Angriffe nicht sterben müssen, wenn Einstein nicht gewesen wäre?
Hätte man gemäß Sloterdijk Einstein die hypothetische Frage stellen sollen, ob er sein Wissen lieber nicht erlangt hätte?

Wollen wir wissen, ob es Gott gibt?

In diesem Kontext möchte ich den Hirnforscher und Psychiater Manfred Spitzer zitieren, der im vergangenen Monat in einem Vortrag in der Akademie der Wissenschaften behauptet hat, dass Gott – wenn es ihn nicht bereits in unseren Köpfen gäbe – aus Sicht eines therapierenden Psychologen und Neurowissenschaftlers erfunden werden müsste. Als Grund für diese Behauptung führte er die Tatsache an, dass empirische Studien ergaben, dass der feste Glaube an eine höhere Kraft sich positiv auf die geistige Gesundheit eines Menschen auswirken kann.
Was wäre nun, wenn wir die Erkenntnis erlangen würden, dass Gott nicht existiert? Würden wir dann nicht liebend gern auf diese Erkenntnis verzichten? Unter Berücksichtigung der Popperschen Falsifikationstheorie ist eine solche Erkenntnis allerdings gar nicht möglich, da die Nicht-Existenz von etwas unmöglich bewiesen werden kann.

Nun möchte ich noch einen persönlichen Bezug zu Sloterdijks Zitat herstellen:
Am Schulweg. Im Unterricht. Beim Einschlafen.
Wer bin ich? Warum bin ich? Warum bin ich, wie ich bin? Warum frage ich mich das?
Wie Kant

Was kann ich wissen?“

kämpfe auch ich mit derartigen Fragen. Doch egal, wie oft oder wie intensiv ich mein Ich mit diesen konfrontiere, das Resultat bleibt stets gleich: Die Gewissheit zu wissen, dass ich nie wissen werden kann, was ich so begehre zu wissen. Dann fallen mir Sokrates‘ Worte ein:

„Ich weiß, dass ich nichts weiß.“

, und komme zu dem Schluss, dass derartige Fragen mit unserem Verstand und unseren limitierten kommunikativen Mitteln wohl nicht beantwortet werden können. Dafür kann keiner der erkenntnistheoretischen Ansätze der Philosophie jemals eine konkrete Lösung liefern.

Einerseits zerreißt mich diese fundamentale Erkenntnis innerlich, dass ich es nie schaffen werde, für mich selbst eine akzeptable Lösung zu finden. Andererseits bin ich froh, dass ich immer wieder versuche, diesen steilen, serpentinenartigen und vollkommen aussichtslosen Weg zum Wissensgipfel zu beschreiten. – Auch wenn es sich nur um einen kleinen Hügel im gewaltigen Gebirgsmassiv der offenen Fragen handelt.
Bei den immerwährenden Versuchen, diese Gipfel, bei denen angelangt ich die vermeintlichen Antworten zu finden glaube, zu erreichen, werde ich doch nur wieder an den Fuß des Berges zurückgeworfen. Dafür öffnen sie mir jedes Mal erneut die Augen für die banale Nichtigkeit der in unserer Gesellschaft etablierten Werte und Normen, beziehungsweise realisiere ich die Irrelevanz alltäglicher Entscheidungen. Verglichen mit der Frage nach dem Wissen über den tieferen Sinn der eigenen Existenz, ist beispielswiese die Frage nach dem Ausgang einer Schularbeit mehr als marginal.

Doch warum muss man beim Wandern unbedingt den Gipfel erreichen?
Nur, weil der denkende Mensch nicht in der Lage ist, sich mit dem Nichtwissen zufrieden zu geben und daher im Laufe seines individuellen Entwicklungsprozesses sowohl auf kognitivem als auch emotionalem Wege stets versucht, seine Umwelt zu verstehen, ist er am Ende so, wie er ist.
Ich kann Aristoteles Zitat:

„Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen.“

, demnach uneingeschränkt zustimmen. Die Unwissenheit und das damit verbundene Streben nach Erkenntnis machen meiner Meinung nach den eigentlichen Reiz des Lebens aus.
Nicht das Wissen an sich, denn dieses ist – wie anfangs erwähnt – vergänglich; die Suche danach aber zeitlos.
Mit dem Wissen verhält es sich ähnlich wie mit anderen Dingen im Leben.

Man will immer das haben/wissen, was man gerade nicht hat/weiß. Und wenn man es dann endlich hat/weiß, will man wieder etwas anderes haben/wissen, das man gerade nicht hat/weiß.

Müsste ich nun nach Sloterdijk zu der Erkenntnis kommen, dass ich eigentlich gar nichts wissen will, da mir rückwirkend nur klar werden würde, was ich am Nichtwissen hatte?
Diese Frage kann mit Ja, aber auch mit Nein beantwortet werden.
Wissen ist ein Wagnis.

[1] Vgl. Bacon, Francis: Novum Organum. Aphorismus I.  1620.
[2] Vgl. Aristoteles: Metaphysik I. Buch A. Spalte 980 a 21.

Comments
  • Anonymous
    Antworten

    sehr gute Arbeit!:)

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