Sprachenlernen ist mehr als nur das reine Erlernen von neuen Wörtern. Auch kulturelle Besonderheiten gehören zum Sprachenlernen dazu – hier aufgezeigt am Beispiel von Weihnachten in den USA. Viele Europäer verbringen die Weihnachtszeit in anderen Teilen der Welt. Sei es als Austauschschüler, als Studenten, als Sprachschüler, als Touristen oder als Geschäftsleute. Sie erleben die meist wunderschön geschmückten Städte und die großen Weihnachtsbäume.
Doch nur wenn die Besucher in amerikanischen Haushalten wohnen (wie z. B. als Austauschschüler oder bei Besuchen von Verwandten oder guten Freunden) erleben sie auch die Besonderheiten eines solchen Festes, die auf den kulturellen, sozialen und politischen Andersartigkeiten des Landes beruhen. Und nur dann versteht man das Land und seine Menschen wirklich, wenn man neben der Sprache auch die Andersartigkeiten und ihre Gründe versteht.
Selbst nur wenige Amerikaner wissen, dass das Weihnachtsfest dort erst seit 1856 – also mehr als 200 Jahre nach der ersten europäischen Besiedlung – als offizieller Feiertag gilt. Bis dahin wurde das Weihnachtsfest von der überwiegend puritanischen Mehrheit als unerwünschte Erinnerung an den verachteten Pomp der Kirche in der ungeliebten europäischen Heimat abgelehnt. Auch heute gibt es mit dem 25. Dezember nur einen einzigen Feiertag. Der „Heilige Abend“ – „Christmas Eve“, 24. Dezember – ist ein normaler Arbeitstag.
Der „Vorlauf“ auf diesen Feiertag beginnt in den USA jedoch früher als bei uns. Unmittelbar nach Thanksgiving (Erntedankfest) am 4. Donnerstag im November beginnen als erstes die Geschäfte mit der Weihnachtsdekoration und der Auslage der Weihnachtsartikel. Auch die ersten Tannenbäume werden in den Städten aufgestellt. Nur wenige Tage später, also Anfang Dezember, beginnen auch die Familien mit dem Aufstellen der Weihnachtsbäume im Wohnzimmer. Zusammen mit den nun ankommenden Grußkarten, die auf dem Kaminsims oder auf einer Anrichte präsentiert werden, wird die Atmosphäre zu Hause zunehmend weihnachtlicher.
Bevor die Kinder dann am 24. Dezember ins Bett gehen, stellen sie ihre Stiefel am Kamin auf oder hängen diese am Bettende auf. Santa Claus, der nachts durch den Kamin ins Haus steigt, füllt die Stiefel . Die Spannung am Morgen des 25. Dezember ist groß: was mag er in diesem Jahr wohl gebracht haben?
Der Weihnachtsfeiertag ist neben Thanksgiving auch ein Tag des Familientreffens. Die Familien, die in Amerika oft mehrere Tausend km (oder Meilen) auseinander wohnen, treffen sich an diesem Tag. Höhepunkt des Tages ist – nach der Bescherung – das Christmas Dinner am Abend, ein meist opulentes Mahl mit turkey oder ham (Truthahn oder Schinken), potatoes and pie (Kartoffeln und Kuchen).
Seit einigen Jahren findet in Amerika eine oft heftige Diskussion über die Berechtigung von Weihnachtsfeiern in Schulen, der öffentlichen Darstellung von Weihnachtssymbolen (z. B. Krippen), ja sogar über die Berechtigung des Feiertages statt. Nicht-christliche Minderheiten melden sich – zum Teil lautstark – in der Öffentlichkeit und erklären, dass sie sich durch die christlichen Feierlichkeiten diskriminiert fühlen, weil die Gesellschaft ihren Feierlichkeiten angeblich weniger Beachtung schenkt und ihnen z. B. keinen offiziellen Feiertagsstatus gewährt .
Als Ergebnis dieses Versuches von „political correctness“ enthalten heute viele Grußkarten zum Weihnachtsfest den Gruß „Happy Holiday“ anstelle von „Merry Christmas“, Schulen führen keine „Christmas parties“, „Christmas celebrations“ oder „Christmas concerts“ mehr durch, sondern „holiday parties“, bei denen z. B. zunehmend weniger christliche oder weihnachtliche sondern weltliche Lieder gesungen werden. Auch die bisherigen „Christmas holidays“ werden zu „Winter holidays“.
Erleben wir gerade eine Rückentwicklung zur Zeit vor 1856? Solche Hintergrundkenntnisse gehören zum wahren Verständnis einer Sprache dazu, denn Weihnachten ist nicht gleich Christmas.
Über den Autor: Wolfgang Eilmes ist ehemaliger Gymnasiallehrer (Englisch) und betreibt www.linguport.de , ein Info- und Suchportal für Sprachreisen aller Art.